Volksliedpflege

Hermann Josef Spiehs, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Tiroler Komponisten und führender Funktionär im NS-Lehrerbund, veröffentlichte in den Innsbrucker Nachrichten vom 10. Juni 1939 in der Beilage Lebendiges Tirol seine Gedanken zu einer effizienten Volksliedpflege, die seiner Ansicht nach erst durch die Kulturdominanz des „Völkischen“ innerhalb der NS-Ideologie ermöglicht wurde. „Operetten- und Schlagerkitsch“ sowie der Einfluss von „Grammophon und Radio“ hätten den „Geschmack der Landbevölkerung soweit verdorben […]“, dass sie mit der „Kultur ihrer Vorfahren nichts mehr anzufangen wußten“.

Urbanisierung und „Industrialisierungsbestrebungen auf allen Gebieten“ seien die Hauptursache dafür, dass dem Volkslied – wie überhaupt jedem „echten naturhaften Kunstempfinden“ – der „Nährboden“ entzogen worden sei. Insbesondere der Städter verfüge über kein „arteigenes Liedgut“ und hätte „im Trubel und Tempo seiner Umwelt das Singen überhaupt längst“ verlernt. Als Resümee dieser Misere stellt Spiehs ideologiekonform fest: „Es war die Zeit der tiefsten völkischen Erniedrigung, die Zeit der deutschen Schmach, da alles Völkische und Wesenseigene mit Kot beworfen, alles Unechte und Fremdrassige aber – und war es noch so minderwertig – verhimmelt wurde.“

Der Nationalsozialismus mit seiner radikalen Kulturpolitik hätte hier Abhilfe geschaffen und diesen „Schmutz und Schund“ beseitigt. An seine Stelle trat eine Fülle von neuem Liedgut „mit seinen in Text und Ton und Rhythmus zündenden Gegenwartsstoffen“. Spiehs zählt dazu das „völkische Freiheitslied, die Hymnen der Bewegung“, weiters „Soldaten-, Studenten-, Arbeitslieder, nicht zuletzt aber die Lieder der Jugend, sie tönen uns in bunter Fülle und Vielfalt aus allen Schichten der Bevölkerung entgegen“. Indem er diese unterschiedlichen Liedgattungen alle unter dem Begriff „Volkslied“ subsumiert und an die Stelle einer an der Tradition orientierten ästhetisch-stilistischen Klassifikation eine von funktionalen Kriterien bestimmte Schlussfolgerung setzt, ist seine Ansicht durchaus zukunftsorientiert. Der Status „Volkslied“ wird der Ideologie folgend begründet, über dessen Hauptfunktion der Identifikationsstiftung und somit seinen „gemeinschaftsbildenden Wert“. Die Grundthese dabei ist damals durchaus neu. „Ob es sich dabei vorderhand um Kunst- oder volkstümliche Lieder“ handelt, ist für die Bewertung eines Volksliedes zweitrangig. Wesentlich ist die Akzeptanz über die Brücke der Identifikationsbereitschaft: „Bei jeder Liedgattung muß das Miterleben, das Mitschwingen der Gesamtheit, einer Gemeinschaft als das Primäre gegeben sein; erst bei solcher Einstellung und Voraussetzung sind Arbeitslieder, Studenten- und Soldatenlieder von heute als brauchbar und echt, als Lieder der Kameradschaft oder sagen wir frischweg als Volkslieder in unserem Sinne anzusprechen.“

Auch für die aktive Volksliedpflege bringt Hermann Josef Spiehs ebenfalls neuartige Vorschläge. Im Unterschied zur herkömmlichen und noch gegenwärtig vielfältig praktizierten Form der Volksliedpflege, wo hauptsächlich ein nach ästhetischen Kriterien ausgewählter Fundus alt gedienter Volkslieder museal verwaltet wird, empfiehlt Spiehs vor allem die Animation zu Liedneuschöpfungen. Insbesondere die Lehrer wären aufgerufen, diesbezügliche Talente aufzuspüren und zu fördern. Für diese „Neubelebung der Volkskultur“ sollten als Anregung dienen „ein gut aufgezogener Kameradschaftsabend, eine Dorfbuchstunde mit Lied und echtem Volkstanz“ oder auch eine „Kulturfahrt mit der DAF.“ (Deutsche Arbeitsfront/NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude). Aus dem Zitat Goethes „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ folgert Spiehs die Notwendigkeit eines „immerwährenden Weiterformens und Neuschaffens“, eine Empfehlung, die auch der aktuellen Volksliedpflege als Grundsatz ihrer Tätigkeit dienen sollte.



Das Volkslied und seine Pflege
In: Innsbrucker Nachrichten vom 10. Juni 1939, Beilage Lebendiges Tirol
Von Hermann J[osef] Spiehs

Ich singe wie der Vogel singt,
der in den Zweigen wohnet,
das Lied, das aus der Kehle dringt,
ist Lohn, der reichlich lohnet!

Dieser Vers Goethes, dessen dichterischer Genius sich in einer ganzen Reihe volksliedhafter und volksverbundener Schöpfungen offenbart, enthält bereits Wesen und Wert der Volksliedidee. Nicht um Ruhm und klingenden Lohn ging es den Meistern dieser einfachsten Kunstformen, vielmehr um ein Sichselbstgenügen.

Das Bedürfnis zu singen und zu sagen, ist einem gesunden, naturhaften Volke angeboren. Lachen und Weinen, Ausrufe des Staunens und der Freude, aber auch die verschiedenen tonalen Aeußerungen von Unlustgefühlen sind als Elemente zu bezeichnen, aus denen sich die höheren musikalischen Ausdrucksformen nach und nach entwickelt haben. Der Jodler ist beispielsweise ein typischer Beleg dafür, er kündet die überschäumende Lebenskraft und Daseinslust des Aelplers.

Daß die textunterlegten Volksliedarten bereits eine höhere Stufe in der Entwicklung der musikalischen Ausdrucksformen darstellen und darum jüngeren Datums sind, bedarf keiner weiteren Erörterung. Hier stehen die Natur- und Liebeslieder, den ganzen Jahresring und Lebenskreis des Menschen umfassend, wohl an erster Stelle. Erst mit dem Schwinden der Einzel- und Kleinsiedlungen, der natürlichen Lebensberufe der Menschen als Jäger, Fischer, Hirten, Bauern usw. beginnen diese Kunstformen zu verflachen.

Wie die Stadt mit ihren Industrialisierungsbestrebungen auf allen Gebieten auch den Nährboden des Volksliedes, des echten naturhaften Kunstempfindens überhaupt, zerstörte, erhellt besonders daraus, daß der Städter kein arteigenes Liedgut besaß, daß er im Trubel und Tempo seiner Umwelt das Singen längst verlernt hatte und daher der modernen Afterkunst um so leichter verfiel.

Hier setzte nun glücklicherweise, obschon reichlich spät, die Aufklärungsarbeit der Volksbildungskreise ein, um zu retten, was es noch zu retten gab. Die Bekämpfung des Bänkel- und Nationalsängertums, die Sammlung und mustergültige Darbietung echten Volksliedgutes im Verein mit den Bestrebungen der Förderstellen für Sippenforschung, Trachtenwesen und sonstigen Brauchtum bildeten gewiß positive Leistungen auf diesen Gebieten der von innen und außen gefährdeten Volkskultur.

Eines aber wollte bei allen Sammel- und Arbeitseifer der Volksbildnertagungen usw. nicht mehr gelingen: die Wiederbelebung des deutschen Volksliedes. Grammophon und Radio, Operetten- und Schlagerkitsch, sie hatten im Verein mit der Landflucht und manchen Auswüchsen des Fremdenverkehrs eine Verstädterung der Landsitten herbeigeführt und den Geschmack der Landbevölkerung soweit verdorben, daß sie mit Mythe, Lied und Tanz, im Großen Gesehen: mit der Kultur ihrer Vorfahren, nichts mehr anzufangen wußte. Eine „Donna Clara“, ein erstbester Niggersongs der Josephine Bakker [! (1906-1975)], sie hatten den gefühls- und gedankentiefen Liedschöpfungen arteigener Komponisten ebenso den Rang abgelaufen, wie ein Boston oder One-step dem Ländler, Walzer, dem farben- und figurenreichsten aller volkseigenen Tänze.

Es war die Zeit der tiefsten völkischen Erniedrigung, die Zeit der deutschen Schmach, da alles Völkische und Wesenseigene mit Kot beworfen, alles Unechte und Fremdrassige aber – und war es noch so minderwertig – verhimmelt wurde.

Das Großreinemachen der NSDAP. auf allen Gebieten des öffentlichen volkhaften Lebens hat auch vor den Kulturbelangen nicht Halt gemacht. Gemäß der Zielsetzung durch den Führer, daß das Programm der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei mehr als bloße Politik, eben die Weltanschauung für den deutschen Menschen umfaßt, brachte der Pionierarbeit jener früher erwähnten Volkstumskreise neuerlichen Auftrieb und erst den wahren Erfolg.

Der Nationalsozialismus packte das Uebel gleich an der Wurzel an, hatte den Schmutz und Schund, der unsere Lebenskultur jahrzehntelang überlagert und damit auch unseren Liederquell verschüttet, weggeräumt; hatte gleichzeitig mit seinen in Text und Ton und Rhythmus zündenden Gegenwartsstoffen dem Volke, den breitesten Massen, endlich das Lied gegeben, wonach sie lange schon vergeblich begehrten: das völkische Freiheitslied, die Hymnen der Bewegung, und hatte damit die Lust entfacht, zu singen, zu musizieren überhaupt. Die Arbeitsbeschaffung im großen, die damit verbundene wirtschaftliche Besserstellung ganzer Volksschichten, unterstützen diesen kulturellen Lebenswillen und Antrieb systematisch; eine ganze Reihe von neuen Liederbüchern legen heute Zeugnis ab vom Wiedererwachen des deutschen Geistes, vom Dichten und Singen der deutschen Seele.

Wiederum, wie einst in der Folgezeit der napoleonischen Kriege, entstehen politische Lieder, die gar nicht „garstig“ klingen. Alte und neue Natur- und Liebeslieder fügen sich zum frisch erblühten Strauß; Soldaten-, Studenten-, Arbeitslieder, nicht zuletzt aber die Lieder der Jugend, sie tönen uns in bunter Fülle und Vielfalt aus allen Schichten der Bevölkerung entgegen. Ob es sich dabei vorderhand um Kunst- oder volkstümliche Lieder handelt und um eine ganz bestimmte Zweckhaftigkeit des Singens, wie Pflege des Gemeinschaftsgedankens u[nd] d[er]gl[eichen], es bleibt für uns bei der beglückenden Feststellung: wir singen wieder!

Der Begriff „Volkslied“, den bisher fast nur Meister Doktor Josef Pöll in seinen unvergleichlichen Liedln ausgeprägt hat, hat nun seine Vertiefung und Erweiterung erfahren. Gerade der gemeinschaftsbildende Wert tritt ja in der heutigen Art zu singen wie nie zuvor zutage. Die Zeiten der Kommersbücher, der ausgesprochenen Stände- und Arbeiterlieder sind nun überwunden. Nicht mehr trennen und zersetzen soll und darf das Lied von heute, nicht mehr Privileg sein einer einzelnen Schicht. Bei jeder Liedgattung muß das Miterleben, das Mitschwingen der Gesamtheit, einer Gemeinschaft als das Primäre gegeben sein; erst bei solcher Einstellung und Voraussetzung sind Arbeitslieder, Studenten- und Soldatenlieder von heute als brauchbar und echt, als Lieder der Kameradschaft oder sagen wir frischweg als Volkslieder in unserem Sinne anzusprechen. Nur was das ganze Volk miterlebt und mitfühlt, was trotz des betont Ständischen getragen und verstanden wird von der Gesamtheit „Volk“, ist positives Liedgut von heute. Also beispielsweise wohl Soldatenleider, aber der Begriff Soldat universell genommen – Soldat als „Schaffender aller Stände“ im Sinne des Volksganzen.

Wird nicht die ganze Stufenleiter der Gefühle des deutschen Menschen bei der heutigen Art zu singen und zu musizieren in hundertprozentiges Mitschwingen versetzt? Ist nicht das Religiös-Heldische, das Bieder-Frohe und Schalkhaft-Heitere in gleicher Weise spürbar, ob es sich nun um einen Choral der Massen handelt, um das Sturmlied der SA.-Abteilung, um die fraulich versonnenen Weisen aus dem B[und] D[eutscher] M[ädel]-Liederbuche oder um einen bloß scheinbar anspruchslosen Sang der Pimpfe? Klingt und schwingt nicht immerzu als das Allerwertvollste jenes Gemeinsame mit: das Beglückende und Bindende volk[s]haften Wesens, der Rhythmus des gleichen Blutes, der Grundakkord brüderlicher und schwesterlicher Zusammengehörigkeit?

Daß nebst dem neuen Liedgut von heute auch das geschichtliche und spezifisch heimatliche unserer Vorfahren nicht vernachlässigt werden wird, dafür bürgt uns schon das umfassende Erziehungsideal nationalsozialistischer Prägung. Abhold jeder Aufspaltung wurzelt dieses Ideal ja bewußt im Boden der Vergangenheit, mit der Zielsetzung, das überkommene Kulturgut unserer Altvorder[e]n zu wahren und auszubauen zu Nutz und Frommen der nachfolgenden Geschlechter.

In der beglückenden Erkenntnis, daß dem deutschen Volke mit all den anderen Werten auch sein Lied wiedergegeben worden ist, braucht uns um dessen Pflege und Weiterentwicklung nicht mehr zu bangen. Die Lust zu fabulieren, ist ja uns Deutschen wie keinem anderen Volksstamm eigen. Und gar uns Alpenländischen! Das Gstanzlen- und Trutzliedersingen hat uns ja nicht einmal das Metternichsche System zu verleiden vermocht.

Stoffe für diese Art von Volkslieddichtung liefern ja auch der Alltag sowie die lieben Nächsten nach wie vor in Hülle und Fülle. Fast jedes Dörfl hat so einen zungenfertigen Spottversdichter.

Wieder andere haben den sogenannten sechsten Sinn für Mythenhaftes und Geschichte; ein Lehrer, der nicht bloß Schulmeister, sondern darüber hinaus Volkserzieher und -betreuer ist, wird oft mit wenigen Anregungen solch werdendem Chronisten oder Balladendichter von der Volkskunst Gnaden auf die Beine helfen, ihn zu Selbstschöpfungen entflammen. Ein Vater Blattl (siehe Kohl-Reiter: „Echte Tiroler Lieder“), der sich mit dem Volksschicksalen von Anno Neun dichterisch und tonsetzerisch auseinandergesetzt, könnte so manchem Jungen von heute zum Vorbild werden für die volkstümliche und liedmäßige Gestaltung der großen geschichtlichen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen unserer Zeit.

Ein dritter wieder ist gegen allen Fortschritt und speit seine dichterische Galle und sein melodisches Gift dagegen. Und wie einst der Bau von Eisenbahnen, die elektrische Lichtwerdung, die Photo- und Kinematographie spottweise besungen wurden (es sei nur an das Lied „Miar Oberländer fölsaföscht“ erinnert!), so mögen die technischen Errungenschaften der Jetztzeit, die ja in Siebenmeilenstiefeln die Welt erobern, manch einem urwüchsigen Dorfdichter als des Teufels Werk erscheinen.

Der ewige Kampf zwischen dem Heute und Gestern, dem Alten und Neuen, der teils naturgesetzliche, teils kulturbedingte Wandel aller Geschehnisse, wird in seiner schicksalhaften Auswirkung genau wie früher auch die Dichter und Sänger unserer Zeit inspirieren.

Dichterische und musikalische Anregung in der Schule, beim Heimabend im Jungendverband, bei den Erwachsenen, ein gut aufgezogener Kameradschaftsabend, eine Dorfbuchstunde mit Lied und echtem Volkstanz, eine Kulturfahrt mit der DAF. sorgen für die Neubelebung unserer Volkskultur. Viele der aufbauenden, positiv eingestellten Kräfte sind bereits am Werke, um das Wunder der deutschen Wiedergeburt auch auf volkskulturellem Gebiet zu verwirklichen. Sinn und Zweck der prächtigen Schöpfungen Einzelner auf dem Gebiete des deutschen Liedschaffens der Gegenwart kann ja nur der sein: anzuregen, zum Mitschaffen aufzurufen! Alle Erziehungsbeauftragten von heute, voran aber Lehrer- und Lehrerinnen, mögen sich dazu berufen fühlen, die Höherentwicklung unserer Volkskultur in all ihren Zweigen wahrzunehmen und in die richtigen Wege zu leiten.

Was das Volkslied im besonderen antrifft, so wird mit der Pflege der Instrumentalmusik (Laute, Harfe, Geige, Blockflöte, Ziehharmonika) auch die Scheu vor dem Notenlernen schwinden. Genug der Noten Unkundige haben schon prächtige Volksliedmelodien erdacht, die dann eben mündlich weiter verpflanzt und überliefert wurden. Ein oder der andere Musikkundige, in den meisten Fällen wieder der Lehrer, wird genügen, solchen Sondertalenten zum Durchbruch zu verhelfen, durch Pflege der Volksmusik, des Volkstanzes und nicht zuletzt des volkseigenen Liedes. Ab und zu ein Preisausschreiben berufener Stellen, ein Herausstellen ganz besonders guter Einfälle und Leistungen – und das Volk wird sich seine Liederbücher selber schaffen, zumal es an gutem Liedmaterial, also an idealen Vorbildern, heute durchaus nicht mangelt.

Aber das Bedürfnis nach Neuem und Wiederneuem, es ist nun einmal vorhanden. Jedenfalls darf bei allen sportlichen und wissenschaftlichen Leistungen auch die künstlerische, rein kulturelle Sendung des deutschen Menschen nicht übersehen werden: er ist berufen, Künder zu sein von all dem Hohen und Schönen, das unsere Vorfahren bereits geschaffen.

Die Mahnung des Dichters [Johann Woilfgang von Goethe]: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ bedingt ein immerwährendes Weiterformen und Neuschaffen.