Ferdinand Exl, „Aus meinem Theaterleben“, 1941

Exl

Ferdinand Exl

Aus meinem Theaterleben

In: Alpenheimat. Familienkalender für Stadt und Land, 3. Jahrgang, Innsbruck 1941, S. 82-85.

 

Der in allen deutschen Landen rühmlich bekannte Gründer und Leiter der Exl-Bühne, der unübertreffliche, aus Tiroler Boden erwachsene Darsteller des deutschen Volksstückes, Direktor Ferdinand Exl, erzählt von seinem Werden und Wachsen im Dienst der deutschen Bühnenkunst und von den kulturellen Aufgaben seiner Bühne. (Karl Paulin, Herausgeber).

 

Es ist merkwürdig, wie die Gewalt des Schicksals sich über die Jugendträume und Jugendwünsche des Menschen hinwegsetzt, wie das Zeitgeschehen ein Leben formt und wie doch die innere Kraft, die entsprechende Ausdauer, ein großer Glaube und der feste Wille die Urgewalt des Schicksals wieder zu bändigen vermag, das Leben in die gewünschten Bahnen lenkt. 

 

Das trifft natürlich sehr selten auf diejenigen zu, denen es vorbehalten blieb, ein reiches Vätererbe zu verwalten oder zu vermehren, sondern auf die Menschen, die vor die nüchterne Tatsache gestellt werden: „Sei – oder stirb!“ Diese sind es, die sich selbst das Schicksal formen, die aus einem scheinbaren Nichts zuerst ein Etwas, dann ein Ganzes und –letztlich sogar etwas Großes gestalten!

 

Bis zum Etwas, ja – vielleicht sogar bis zum Ganzen, glaube ich, habe ich es auch gebracht. Und wie dies zuging, will ich hier nun kurz erzählen.

 

Mit über sechzig Lenzen kann wohl jeder Mensch ein ganzes Buch mit Erinnerungen, Erlebnissen und gewaltigen Eindrücken füllen. Gar manchem würde es schwer fallen, bei der tausendsten Seite aufhören zu müssen.

 

So auch bei mir! Und der Anfang dieses Buches würde bei jedem ebenfalls zumeist gleichlautend sein: Eigentlich – eigentlich wollte ich als Junge Feuerwehrmann, Polizist, Soldat usw. werden. So auch ich! Ich habe mir die Nase plattgedrückt am großen Zaun bei der Innsbrucker Kadettenschule; Nächte hindurch habe ich nur davon geträumt, Offizier zu werden! Aber dazu reichte es bei der mehrköpfigen Familie eines kleinen Postbeamten nicht. Da mußte schon der Sohn froh sein, wenn ihn der Vater ein ehrbares Handwerk lernen ließ. So kam ich denn nach dem Besuch der Volksschule am Pädagogium zu einem Buchbinder in die Lehre.

 

In der Zwischenzeit aber habe ich, wenn ich schon den Offizierstraum gewaltsam aus meinem Denken verbannen mußte, ein anderes Steckenpferd gefunden – das Theaterspielen. Und das kam so: In unserer Wohnung – es war dies das alte Redenhaus in der Maria-Theresien-Straße, das heutige Alt-Insprugg – hatten wir eine Untermieterin, ein Fräulein Stengl. Das war nun eine richtiggehende Schauspielerin, die Naive am Innsbrucker Stadttheater. Ich durfte ihr öfters den kleinen Korb mit ihrer Garderobe ins Theater tragen. Kein Wunder also, daß ich manchmal über Gebühr lange ausblieb, denn heimlich hinter einer Kulisse stehend, sog ich all das Unbekannte und Geheimnisvolle mit fieberhafter Spannung in mich auf. Leider nahm auch die bald ein gewaltsames Ende. Eines Tages holte mich nämlich mein Vater an den Ohren von der Bühne und verbat mir, fortan den Korb in das mir bereits liebgewordene Theater zu liefern.

 

Mußte ich das wirkliche Theater schon vermissen, so machte ich mir selbst mein eigenes. Ich trommelte einige Schulkameraden und Kinder meiner Nachbarschaft zusammen und studierte mit ihnen ein Theaterstück ein, das durch die finanzielle Unterstützung eines gleichaltrigen Mädchens, das später die Frau eines angesehenen und populären Innsbrucker Arztes wurde, am Dachboden unseres Hauses vor „zahlendem Publikum“ zur Aufführung gelangte! Nichts geringeres als Hamlet war auserkoren, selbstverständlich eine Jugendfassung. Da die Aufführung dem P. T. Publikum aber zu kurz war – man wollte doch für seine fünf Kreuzer etwas sehen – haben wir das Stück einfach gleich zweimal hintereinander gespielt! Damals war ich noch kaum zehn Jahre alt.

 

Nach vielen heimlichen Theaterbesuchen, entweder im hintersten Stehparterre oder ganz oben auf der Galerie, bei welcher Gelegenheit ich auch den großen Friedrich Mitterwurzer, der in seiner unvergleichlichen Kunst einen nachhaltigen Eindruck in mir hinterließ, sah, entschloß ich mich, ebenfalls heimlich vor den Eltern, Eleve am Stadttheater zu werden. Eine Zeit lang gelang es mir, diese zu täuschen – ich war damals schon das erste Jahr in der Lehre und erfand allerlei Ausreden – aber schließlich kam man mir doch darauf, und vieler Bitten bedurfte es, bis mir mein Vater dieses harmlose Vergnügen bewilligte. Nun war es nur ein kleiner Sprung vom Eleven des Stadttheaters zum „Ritter“ an das berühmte Pradler Theater. Durch meine ganze Lehrzeit als Buchbinder habe ich dort manchen blutrünstigen Helden verbrochen. Trotz der vielen Arbeit in der Werkstätte und neben dem Studium meiner „Rollen“, fand ich noch immer Zeit genug, jeden Schmöcker, der mir in der Buchbinderei unterkam, mit Wissensdurst zu verschlingen. – Nach Abschluß meiner Lehrzeit war ich ein Jahr auf der „Walz“. Auch darüber könnte ich einen größeren Band schreiben, als ich ihn zu binden als Buchbinder je Gelegenheit hatte.

 

1896 begann meine Militärdienstzeit, die ich in der Klosterkaserne abdienen sollte. Aber als ich am Abend zu spät einrückte – die Nachmittagsvorstellung am Pradler Theater war daran schuld –, wurde ich strafweise nach Linz transferiert. Rasch stieg dort mein Ansehen bei Vorgesetzten und Kameraden, trug ich doch viel durch ernste und heitere Vorträge bei verschiedenen Veranstaltungen bei. Sogar Theaterstücke habe ich dort einstudiert, und als das Pradler Theater im Jahre 1897 zu einem Gastspiel in den Ronacher nach Wien eingeladen wurde, erhielt ich durch Erzherzog Ferdinand Karl die Erlaubnis zur Mitwirkung.

 

Nach knapp zwölf Monaten Militärzeit hatte ich es bereits zum Wachtmeister gebracht. Es stieg in mir wieder der alte Traum aus der Kinderzeit auf, ich meldete mich als Längerdiener mit der verlockenden Aussicht, es doch zum Offizier zu bringen. Wie es dann eigentlich kam, daß ich diesen Entschluß wieder aufgab, würde wohl zu weitschweifig sein, um es erzählen zu können. Tatsache war, daß ich nach dreijähriger Dienstzeit als Schreiber bei der Militärbauabteilung wieder in Innsbruck landete, dort wieder jeden Sonntags im Pradler Theater spielte, bis ich schließlich einige Gleichgesinnte fand, mit denen zusammen ich später eine nebenberufliche Spielschar zur besonderen und vornehmlichen Pflege des Volksstückes ins Leben rief, aus der ich im Laufe der Jahre die weit über die Grenzen des Heimatlandes bekannte Exl-Bühne entwickelte.

 

Als im Jahre 1901 die Gründung des Deutschen Männergesangvereins in Innsbruck erfolgte, war ich natürlich begeistert mit dabei und dort lernte ich auch die Menschen kennen, die dann – soweit der mächtige Schnitter nicht eingriff – bis heute meine getreuen Kameraden und Mitarbeiter geblieben sind. Köck, Auer, Ranzi, Spörr, um nur einige Namen zu nennen, waren es, die meinen Entschluß kräftigten, und dann ging es mit Feuereifer ans Werk. Aus Pradl kam die entsprechende Verstärkung. Vater Gsöttner rückte nicht nur selbst zu uns ein, er brachte auch seine drei blitzsauberen Töchter mit, die von ihm Talent und Spielfreudigkeit ererbt hatte: Anna, Mimi und Pepi. Und die Marik kam und die Zötsch, der Maikl-Hans und der Lener-Toni mit seiner Schwester Gerta, der Luis Rainer, der heutige Professor Ortner – bis wir ein spielstarkes Ensemble waren.

 

Und dann kam für mich wohl der entscheiden[d]ste Tag meines Lebens. Am Ostersonntag des Jahres 1902 war es, als die Exl-Bühne sozusagen das Licht der Welt erblickte. Im Saale des Österreichischen Hofes in Wilten fand die erste Vorstellung statt und kein Geringerer als Anzengruber mußte der Pate sein. Wir hoben das hoffnungsvolle Kind mit dem Volksstück Der Pfarrer von Kirchfeld aus der Taufe.

 

Schon 1903 erfolgte die erste größere Gastspielreise, die uns nach Basel, Zürich, Freiburg i. B., Metz, Barmen, Köln und Aachen führte. – Im Jahre 1904 wurde das Löwenhaustheater in Innsbruck eröffnet. Unser erstes Gastspiel in Wien fand im Jahr 1907 statt. Zwischendurch war große Heiraterei in der Exl-Bühne. Ich führte Vater Gstöttners Tochter Anna zum Altar, die doch so viel beitrug, den künstlerischen Erfolg der Exl-Bühne zu erwerben und zu festigen. Ludwig Auer fand in ihrer Schwester Mimi den richtigen Ehepartner und so wurde aus den anfänglich „einschichtigen“ Exlern viele junge Pärchen und aus dem Kreis der treuen Freunde und Mitarbeiter mit der Zeit eine wirkliche Familie.

 

Im Sturme eroberten wir die Herzen der kunstbegeisterten Wiener und nun standen mir alle großen Theater deutschsprechender und auch deutschverstehender Länder offen. Kreuz und quer durchs heutige große Deutsche Reich zog die Exl-Bühne, nach Holland, Belgien, Ungarn, Schweiz usw. Die kleine Tiroler Künstlerschar hat sich ein großes Betätigungsfeld erobert. Der gewaltige künstlerische Aufstieg ließ sich nun auch nicht mehr durch die ereignisreichen Jahre des Weltkrieges eindämmen. Da die Veranstaltung großer Reisen nicht mehr möglich war, übernahm ich in den Jahren 1916 bis 1920 das Innsbrucker Stadttheater, das ich mit allen Spielgattungen – Oper, Operette, Schauspiel und natürlich mit meiner Exl-Bühne führte. Ich gründete damals auch die heute noch vielen Kunstanhängern in bester Erinnerung stehenden Kammerspiele im Großgasthof Grauer Bär in Innsbruck.

 

Dann lockte uns doch wieder die Großstadt. Nach 1921 begannen unsere regelmäßigen Wiener Spielzeiten. Unser Wirken in Innsbruck beschränkte sich auf die Sommermonate, die uns immer wieder als Energiespeicher dienten für die lange Zeit außerhalb der Heimat. Nur mehr zwei oder höchstens drei Monate blieben Zeit, Gastspielverpflichtungen außerhalb Wiens oder Innsbrucks nachzukommen. Hervorragende Bühnen des Reiches beriefen uns vor ihr Publikum, vor dem wir immer und überall in künstlerischen Ehren bestanden. Aber über die großen Staatstheater, in denen wir spielten, vergaßen wir doch nicht, daß auch kleine Theater Anspruch darauf haben, das wahre Volksstück, richtig vermittelt, kennen und lieben zu lernen. So machten wir durch großen Eifer die zu kurzgewordene Zeit wett und eilten in anstrengenden Reisen von Stadt zu Stadt. Und wo es nur möglich war, wurden wir gleichzeitig die Künder der Schönheit unserer geliebten Heimat Tirol. die wir doch alle zutiefst in unseren Herzen als köstliches Kleinod eingeschlossen hielten.

 

Denn das ist vielleicht unsere stärkste Seite. Trotz der gewaltigen Reisen, mit ihren großen, teils erhabenen Eindrücken, sind wir alle das geblieben, was wir immer waren – Tiroler.

 

Daß wir dabei auch die besten Deutschen waren, haben wir wohl in den letzten Jahren sehr stark zu beweisen die Gelegenheit gehabt. Volksfremde Elemente und Judenboykotteure haben uns das Leben und die Arbeit schwer gemacht. Aber wir hielten durch im festen Glauben an die Freimachung, und so war es mein größtes Erlebnis, der gewaltigste Eindruck, den ich je in meinem so ereignisreichen Leben empfangen habe, als es mir nach der Ostmarkbefreiung vergönnt war, anläßlich der Tage der Deutschen Kunst in München der Gast unseres Führers zu sein.

 

So vollende ich nun 1940 mein 65. Lebensjahr und kann rückblickend sagen: Viel habe ich erlebt, viel erduldet und getragen, aber auch viel Glück und Freuden genossen. Und ich muß auf den eingangs erwähnten Satz zurückkommen – ich hoffe, daß es mir gelungen ist, aus dem scheinbaren Nichts ein Etwas und ein Ganzes zu gestalten. Aber auch das ganz Große habe ich zumindest erleben dürfen. Die Einigung des großen Deutschen Reiches, die Festigung in der Deutschen Kunst, der wir uns ja mit Haut und Haar verschworen haben – und nun der Beweis der unbändigen Kraft des deutschen Volkes, das unter seinem gottgesandten Führer die gewaltige Jugendstärke in die Waagschale der Gerechtigkeit wirft, um für sein Volk die ihm entsprechende Weite, den Lebensraum, zu schaffen und zu sichern.

 

Vor solchen Leistungen allerdings verblassen alle kleinen Arbeiten und es wird uns deutlich fühlbar gemacht: wir Einzelne sind nichts, nichts als ein kleines Rädchen, das einzugreifen hat in dem gewaltigen Räderwerk des Volksstaates. Und wenn es gelungen ist, dies klaglos zu tun bis an unser Lebensende, so können wir getrost ein die weite Reise in das All antreten, denn seine Pflicht getan zu haben, immer redlich getan zu haben, das allein ist schon wert, ein Leben gelebt zu haben.

Ferdinand Exl und weitere Mitglieder der Exl-Bühne zu Gast bei Adolf Hitler anlässlich der Tage der Deutschen Kunst in München 1938, Fotografie. Original im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, Bibliothek, FB 43392/001.